Der Gleiberger Bub Franz Richter als Laufbursche in Gießen

Franz Richter im Jahr seiner Schulentlassung 1934

Franz Richter, 1919 in Gleiberg geboren und 1993 verstorben, war jahrelang Verwaltungsangestellter der Bürgermeisterei von Krofdorf-Gleiberg und Standesbeamter. Er war einer der Gründer unseres Vereins Fotofreunde und erzählte dort immer gerne Erlebnisse aus vergangenen Tagen. Besonders eine Geschichte davon gefiel uns, nämlich die von seiner Erfahrung als Laufbursche für ein Lebensmittel-geschäft in Gießen. Am 5. Juli 1991 traf ich mich mit Franz in unserem Vereinsdomizil und bat ihn, sein Gießener Jugenderlebnis noch einmal auszubreiten, diesmal in Gegenwart eines Tonbandgerätes. Das Folgende basiert auf diesem Gespräch.

„Ich kam im Frühjahr 1934 aus der Schule und wollte Kaufmann lernen, eine fixe Idee, die sich damals nicht verwirklichen ließ. Es gab keine Lehrstelle für den, der keine Beziehungen hatte“, begann Franz sein Erzählches. Trotz diesen düsteren Aussichten ging der junge Mann auf das für ihn zuständige Arbeitsamt in Wetzlar, wo er aber nur zu hören bekam: „Tut uns leid, wir haben überhaupt nichts“. Also versuchte er es am Arbeitsamt in Gießen, aber auch dort hieß es wenig aussichtsreich: „Eine Lehrstelle? Nee, das kannste dir abschminken“. „Aber“, habe ihm der Mann am Arbeitsamt eröffnet, „ich habe eine Stelle als Laufbursch frei, der Kaufmann Bieker im Neuenweg sucht einen zum Warenaustragen“.

Der soeben Schulentlassene sagte sich: „Irgendetwas muss ich ja treiben, fangen wir also damit einmal an“ und ist gleich hin zu der ihm angegebenen Adresse. Herr Bieker habe ihn von oben bis unten beguckt und dann zuerst gefragt, ob er wohl so eine schwere Kiepe tragen könne? Franz: im Rückblick: „Naja, ich musste sie ja nachher tragen“. Bevor es losging, wurde der Anfänger über den Lohn für seine Arbeit aufgeklärt: „Das Mittagessen und 5 Mark die Woche“. Nachdem die beiden handelseinig geworden waren, hörte Franz die nächste Frage seines neuen Arbeitgebers: „Kennst du Gießen?“, darauf die Antwort des Gleibergers: „Noja, so ein bisschen schon“.

Anweisung zum richtigen Grüßen

Der frisch gebackenen Laufbursche bekam nun einen Stadtplan gezeigt und die 6 Bezirke zwischen der Gail´schen Fabrik im Südosten und der Krofdorfer Straße im Nordwesten genannt, wo er Bestellungen aufnehmen sollte. Dann gab der Kaufmann seinem neuen Laufburschen einen Block und erklärte ihm: „Heute sind die Lahnstraße, Krofdorfer Straße und die Schützenstraße dran. Da gehst du hin und sagst freundlich Guten Morgen“. Weiterhin belehrte er ihn hinsichtlich der Begrüßung: „Dort und dort musst du Guten Morgen sagen, dort Heil Hitler und dort Grüß Gott“. Und wenn er bei einer bestimmten Person ausdrücklich mit Heil Hitler grüße, bekomme er von der sogar ein Trinkgeld.

Es ging also los in der Lahnstraße. Franzens erste Kundschaft sollte das Glaskontor Wolf sein. Was ihm da gleich zu Anfang seiner Tätigkeit – sie begann um 8 Uhr morgens – widerfuhr, schilderte er so: „Mensch, ich war doch ein Bauernbub, also einer, der sich in der Stadt nicht auskannte. Da stand eine Korridortür offen, auf der Wolf zu lesen war. Ich hab geklingelt. Es meldete sich niemand. Ich denke ‚guckste mal, gehste mal rein‘. Da tauchte eine Frau auf. Mensch, hat die mich zur Minna gemacht. Ich hab mich entschuldigt, so ganz auf die Nas gefallen war ich ja auch nicht, ich wusste schon, was sich gehört“. Am Ende dieses Zwischenfalls hat die Dame ihm dann doch „einen kleinen Auftrag gegeben“, erinnerte sich Franz.

Zurück ins Geschäft kam Franz so gegen Halbzwölf. Da hatte er seine Bestellungen beieinander. Der Chef sortierte sie und prüfte nach, „wieviel Geld ich mitgebracht habe“. Es war das Geld, das Franz bereits im voraus auf die bestellte Ware von der Kundschaft kassiert hatte. Bald hatte der junge Bursche heraus: „Mehr als 20 Mark Betriebskapital war selten. Es war schlimm“. Und weiter erkannte er im Laufe der Zeit: „Die Kunden, die Bieker belieferte, haben ja eigentlich alle nur aus Gnade und Barmherzigkeit bestellt, weil er ein guter Katholik war, jeden Sonntag in die Kirche ging. Das hat er nur gemacht, damit er gesehen wurde. Wenn ich zu den Kunden kam und sagte ‚Einen schönen Gruß von der Firma Bieker, ich möchte mal fragen, ob sie was nötig haben‘, hieß es schon ‚ach der Bieker’„.

Zur Kundschaft von Kaufmann Bieker gehörte auch das Katholische Schwesternhaus an der Liebigstraße. Dort erhielt er pro Monat etwa eine Bestellung, die zudem kaum über einen Sack Zucker und einen Sack Salz hinausging, ein Auftrag, das erkannte Franz bald, „an dem nicht gerade viel zu verdienen war“. Er, der Laufbursche, „musste dann mit dem rappeligen Handkarren zu dem Lebensmittelgroßhandel Benner, Krumm und Sauer in der Bahnhofstraße. Dort wurde mir die Ware aufgeladen.“. Nur leider aber hatte sein Chef oft kein Kapital zur Vorfinanzierung solcher Mengen. Zum Glück kam die Firma dem Laufburschen entgegen, indem man ihn ermahnte: ‚Wenn du die Mäuse (aus dem Erlös der Lieferung) hast, kommst du erst hierher‘. Was Franz auch immer brav tat.

Der Laden selbst sei ziemlich groß gewesen, mit einem kleinen Lagerplatz dahinter, wo das Geschäftsfahrrad geparkt stand. Dessen Pedale freilich hätten nur noch aus den Pedalstiften bestanden. Benutzt habe er das Rad jedoch nur selten, weil er die meisten Wege zu Fuß „mit dem klapprigen Handwägelchen“ absolvierte.

Die erste Tagespflicht: Schuhe putzen und Ofenplatte reinigen

Über dem Laden befanden sich die Wohnräume der Familie Bieker, außerdem waren zwei Studenten einquartiert. „Herr Bieker hatte eine Frau und zwei Buben, die waren damals so 10 oder 12 und gingen aufs Gymnasium“ erinnerte sich der Erzähler weiter. Den Ablauf seines Arbeitstages schilderte er dann so: „Um halb acht fing ich an, da musste ich meistens erst fünf Paar Schuhe putzen. Die Frau Bieker guckte dann immer zwei-, dreimal, ob ich´s auch richtig mache. Aber das Schuheputzen kannte ich schon von daheim“. War diese Pflicht erledigt, wartete bereits die nächste, das Putzen des Herdes. Wie das vonstatten ging, schilderte Franz mir so: „Der Herd war noch ziemlich heiß, da musste ich das Ding mit Abrador, so eine Art Reibpapier, reinigen. Da fielen die Schweißtropfen auf die heiße Platte. Da kam sie wieder angeschissen. Erst wenn es richtig war, sagte sie ‚Jetzt kannst du wieder an die Arbeit gehen’„.

„Zum Mittagessen bekam ich“, beschrieb Franz seine Verpflegung „in einer Katzenschüssel, also in einem emaillierten Blechnapf, jeden Tag fast dasselbe, man hätte meinen können, sie hätte für vier Wochen gekocht, jeden Tag eine aufgewärmte Suppe. Gegessen habe ich auf der Treppe. Auf dem Hof war eine Art Komposthaufen, wenn die Luft rein war, habe ich die Suppe schon mal hingeschüttet. Da habe ich mir lieber dann beim Bäcker einen Weck geholt oder ein Stückchen“. So karg sei es das ganze Jahr über geblieben.

Nach dem Mittagessen begann die Belieferung der Kunden. „Ich wurde mit dem Geld (also mit dem oben erwähnten bescheidenen Betriebskapital aus der Vorkasse) zu Benner, Krumm und Sauer geschickt. Da musste ich schon die Kiep mitnehmen“. Die erste Frage, die man ihm dort stellte, lautete gewöhnlich: ‚Hast du auch Geld?‘. ‚Ja, ich habe Geld‘, hieß daraufhin die Antwort. Dann zog der Laufbursche ab „mit meinem Kram“. Kam er zurück in den Laden, stellte sein Chef die Kundenbestellungen zusammen, die Franz sogleich ausliefern musste. Die Gänge zum Großhändler wiederholten sich etwa dreimal pro Tag. Auf meine Frage, ob der Kaufmann denn kein eigenes Lager gehabt habe sagte Franz: „Nein, nein, er hatte eigentlich auch kein Geld und nirgendwo Kredit. Nachdem ich so ein Vierteljahr bei ihm war, wusste ich die Einkaufs- und Verkaufspreise und konnte daraus auf Heller und Pfennig berechnen, was der Mann verdiente“.

„Ja ist denn der Zucker schon wieder all?“

Franz schilderte weitere Beobachtungen und Erfahrungen: Habe er einmal nichts zu tun gehabt, musste er im Laden die Gewichtssteine der Waage mit Sidol putzen. Trat eine Kundin ein, sei sein Chef sehr freundlich gewesen, „und das war er eigentlich immer“. Fragte die Kundin dann nach einer Ware, habe er die Schubladen der Wandregale aufgerissen. Franz : „Es war aber nichts drin“. Dabei habe er, ging es zum Beispiel um Zucker, scheinbar verwundert ausgerufen „Ja ist denn der Zucker schon wieder all!?“ und seinen Laufburschen angewiesen „Geh gleich mal rüber zum (Spediteur) Lyncker, er soll den Sack Zucker, den ich vor zwei Tagen bestellt habe, gleich herbringen“. „Wenn ich dann losging“, erzählt Franz weiter, „kam er hinter mir her und gab mir 38 Pfennige. Damit lief ich durch den Hintereingang rüber zum Lebensmittelgeschäft Geisse, wo sie mich schon kannten und fragten ‚No, was hast du denn schon wieder?‘. Ich sagte lediglich ‚ein Pfund Zucker'“. Nur habe es da stets ein Problem gegeben: den Namen „Geisse“ auf den Tüten. Doch auch hierfür fand Herr Bieker eine Lösung. Kam Franz zurück, „hielt er draußen schon eine neutrale Tüte bereit“, der Inhalt der Geisse-Tüte wurde in diese umgeschüttet und der Kundin ausgehändigt, ohne dass die den Handel bemerkt habe. Ähnliche Manipulationen geschahen auch mit anderen Waren, wie sich Franz weiter erinnerte: „Wir führten auch Kaffee, der wurde beim Großhändler Schlüter in der Ludwigstraße gekauft (da irrte sich Franz, die Firma Schlüter befand sich in der Südanlage), allerdings nur eine Sorte, die, glaube ich, im Einkauf zwei Mark das Pfund kostete. Ich musste ihn holen, aber immer nur zwei Pfund, mehr konnten wir ja nicht kaufen“. Verkauft wurde die Röstware aber dann viertelpfundweise entweder für 60, 70 oder 80 Pfennig die Portion, wobei der Kaufmann nie vergessen habe, seiner Kundschaft auch ‚ganz frisch gerösteten Kaffee’ anzubieten, nur koste der dann ein wenig mehr nämlich ‚90 Pfennig das Viertelpfund‘. Der Laufjunge freilich wusste: „Es war immer derselbe Kaffee“. Mit Speise-Öl wurde ähnlich verfahren. „Das haben wir auch beim Geisse eingekauft, immer das billigste zu 95 Pfennig pro Liter. Verkauft haben wir es dann für 1,10, 1,20 oder 1,30“, letzteres von Kaufmann Bieker seiner Kundschaft mit dem ausdrücklichen Hinweis angepriesen ‚falls Sie das gute Speiseöl haben wollen‘. Auch Essig gab es Franz zufolge bei seinem Chef, und zwar „alle Sorten. Wir hatten ein grosses Dippe, da lag so allerlei Zeug drin, zum Beispiel Kümmel. Dazu kamen zwei Schuss Essigessenz rein und zwei Eimer Wasser drauf. Dann musste ich rühren“. Und bestellte jemand Essig, durfte Franz nie vergessen zu fragen: ‚Wollen Sie den gewöhnlichen Essig oder Weinessig? Und wir haben auch noch einen ganz guten‘.

War eine gewünschte Ware nicht vorrätig oder nicht so schnell zu besorgen, wie etwa Zucker bei Geisse, habe Herr Bieker auch noch andere Ausreden parat gehabt, etwa die: „Der Franz bringt es Ihnen hin, Sie brauchen nicht zu warten.“. Wollte eine Kundin das dem Laufburschen nicht zumuten, beruhigte er sie mit dem Hinweis „der Franz macht das schon“. Am Ende jeden Arbeitstages aber hatte der Franz noch einen Sonderdienst für seinen Arbeitgeber zu verrichten. Mit der Begründung, nachher komme die Frau L., eine Jüdin aus der Nachbarschaft, die angeblich laut Herrn Bieker, gerne einen ‚nippele‘, wurde er in eine nahe Drogerie geschickt, um dort eine kleine Flasche Schnaps zu holen. Franz: „Die hat er dann selbst geleppelt. Und das musste ich jeden Tag machen, einen Abend Schnaps, einen Abend zwei Flaschen Wein beim Inderthal“. Und der Erzähler konstatierte: „Seine Familie hat der Kaufmann kaum ernähren können, denn was er an Gewinn hatte, das hat er versoffen“.

Der Gleiberger übte seine Arbeit als Laufbursche ziemlich genau ein Jahr aus. Gegen Ende dieser Zeit geschah für den Kaufmann eine weitere häusliche Katastrophe: der Auszug seiner beiden Untermieter, was zur Folge hatte, dass auch das Häuschen im Neuenweg nicht mehr zu halten gewesen sei. Sowohl Wohnung als auch Geschäft wurden in Mösers Mühle an der Lahn verlegt (laut Adressbuch 1937: Zu den Mühlen 16 – S.T.). Hier verrichtete Franz noch etwa zwei Monate seine Dienste. Die Familie seines Dienstherrn wohnte über dem Stall der Mühle, „aber“, so Franz, „ich brauchte den Herd nicht mehr zu putzen“, weil man ihn gar nicht mehr in die Wohnung ließ. Andererseits fand er es in Mösers Mühle durchaus interessant. Da gab es in einem Hühnerpferch ein Huhn, „das musste ich jeden Morgen füttern und abends mit Wasser versorgen“. Freilich: „Die Eier hat Bieker selbst geholt“.

Als Franz sein Dasein als Laufbursche aufgab, weil er Aussicht auf eine richtige Lehrstelle hatte, machte ihm sein Chef ein scheinbar verlockendes Angebot: „Franz, hör mal zu, du hast doch jetzt an deiner neuen Arbeitsstelle mehr Freizeit. Samstags arbeitet ihr doch schon nicht mehr, da kannste kommen und mir ein bißchen helfen im Geschäft. Brauchst es ja niemanden zu erzählen, du weißt ja wie die Leute sind, wenn einer nebenbei noch was verdienen kann“. Franz schwieg, sagte sich aber innerlich: „Du wirst mich im Leben nicht mehr wiedersehen. Du bist doch sowieso am Ende“. Und noch fast 6 Jahrezehnte später wunderte sich der Erzähler über seinen ersten Job im Leben: „Dass ich das überhaupt ein Jahr geschafft habe! Ich bin ja morgens vom Gleiberg gelaufen und abends wieder heim, bin mindestens 20 Kilometer mit der Kiep und einem Korb unterm Arm in der Stadt herum. Das Ganze war für mich eine Tortur“.

Siegfried Träger