Zu der folgenden Dorfgeschichte hatte ich bereits in den 1950er Jahren ein paar unterschiedliche Darstellungen aufgeschnappt. Immer aber ging es dabei um den dramatischen Fallschirmabsprung eines Gleibergers angeblich auf einen Acker irgendwo in der näheren Umgebung. Erst Jahrzehnte später machte ich mich endlich daran herauszufinden, was da eigentlich wirklich geschehen war, allerdings ohne genaue Kenntnis davon, um wen es sich bei dem Fallschirmspringer handelte. Eine Vermutung allerdings hatte ich, und, wie sich herausstellte, lag ich damit richtig. Meiner Bitte um ein Interview wurde gerne entsprochen, und so erhielt ich endlich ganz authentisch von der „Hauptperson“ Antworten darauf, wann, warum, und wo genau jener rätselhafte Fallschirmabsprung stattgefunden hat.
Der aus Gleiberg stammende, später in Krofdorf verheiratete Werner Mandler musste als Angehöriger des Geburtsjahrganges 1924 am 20. Oktober 1942 zum Militär. Bereits bei der Musterung hatte man ihn für die Fliegerei eingeteilt und anschließend zur Ausbildung nach Frankreich geschickt. Dort kam ihm zu Ohren, dass Freiwillige als Funker gesucht würden. Und so wurde er Flugzeugfunker (Foto). Mit dieser Aufgabe hielt er sich eine Zeit lang in Prag auf, wo er eine Bruchlandung überlebte. Wenig später, am 31. August 1944, entging er wieder nur knapp dem Fliegertod. Nach einer Notlandung seiner Maschine im Erdinger Moos bei München musste er acht Wochen lang in einem Lazarett verbringen.
Wieder genesen, erwartete ihn schon der nächste Auftrag – mit der ungeahnten Folge eines unfreiwilligen und höchst gefährlichen Wiedersehens mit seiner Heimatregion. Auf dem „Programm“ standen diesmal sechs Nachteinsätze vom Heimatflughafen Oberschleißheim bei München aus. Fünf der Aufträge waren bereits ausgeführt, als die aus drei Maschinen des Typs 88 G 6 der Firma Junkers bestehende Rotte mit je 3 Mann Besatzung (Pilot, Funker und Techniker) am 18. November 1944 um 18 Uhr zu ihrem letzten Flug startete. Bewaffnet waren die schweren Fluggeräte mit jeweils 6 Kanonen, von denen sich vier an der Kanzel und zwei am Rumpf befanden. Zielort sollte an jenem Abend der Flugplatz Kassel-Rothwesten sein. Doch es kam anders als gewünscht, wie Mandler sich Jahrzehnt später noch erinnerte.
Bereits in der Nähe Nürnbergs mussten zwei der drei Maschinen kehrt machen. Ein Warnsystem gegenüber der eigenen Flugabwehr war ausgefallen und damit die Gefahr entstanden, von der eigenen Bodenverteidigung abgeschossen zu werden. Nicht von dieser Störung betroffen war die Maschine, in der Werner Mandler saß. Sie flog weiter in Richtung Zielflughafen Kassel. Da kam – sie befanden sich gerade im Raum Gießen – über Funk die Nachricht, dass in Kassel eine Landung wegen Beschädigung der Rollbahn nicht möglich sei. Statt dessen sollten sie den für sie nächst gelegenen Fliegerhorst nutzen, und das war eben der in Gießen. Dort allerdings gab es gerade Fliegeralarm und infolgedessen die Verdunklung der Rollbahn. Eine Landung würde also auch hier zunächst nicht möglich sein. Die Maschine wurde von der Flugsicherung in einen „Warteraum irgendwo in der Nähe Gießens““ dirigiert, 3500 Meter über Grund.
Eine allzu lange Wartezeit konnte man sich dort oben aber nicht mehr leisten, denn allmählich ging der Sprit zu Ende. Trotzdem musste die Maschine immer weiter ihre Kreise ziehen, bis schließlich der Treibstoff nur noch für 10 Minuten Flugzeit reichte. Dieser ungemütliche Umstand zwang den Funker Mandler, den für eine solche Situation vorgeschriebenen Funkspruch „QBZ 10 Minuten Flugzeit“ abzusetzen:. Als Antwort kam vom Boden aus die Anweisung zur Notlandung auf dem Flugplatz Fritzlar. Dessen Landebahn wäre mit nur 800 Meter eigentlich zu kurz für die Maschine gewesen. Doch zu einem Weiterflug nach Fritzlar kam es ohnehin nicht mehr. Während das Flugzeug nämlich immer noch im Warteraum herumkurvte, wurde es – sichtbar an einer Leuchtspurgarbe – beschossen, möglicherweise von einem englischen oder kanadischen Nachtjäger.
Durch den Beschuss geriet der rechte Flugmotor in Brand, die Funkanlage fiel aus und die Maschine sackte um etwa 500 Meter ab, ehe es gelang, das Feuer mittels des eingebauten Schaumlöschers zu ersticken. Obwohl das Flugzeug trotz Ausfall eines Motors eigentlich noch flugtauglich war, gab der Pilot jetzt den Befehl: „Los, fertigmachen zum Absprung“, weil der Benzinvorrat selbst für eine Notlandung nicht mehr ausgereicht hätte. Der Funker Mandler, dem als Gleiberger das Absprunggebiet vertraut war, warnte zwar noch vor den vielen Überlandleitungen. Aber was half´s? Der Ausstieg musste sein. Zuerst verließ der Techniker durch eine Bodenluke die Maschine, ihm folgte der Funker und als Letzter der Pilot. Der hatte den Flieger vorher noch „ausgetrimmt“, ihn also in eine stabile Fluglage gebracht. Das Geisterflugzeug stürzte, wie sich später herausstellte, bei Michelbach im Odenwald ab, also in ganz beträchtlicher Entfernung vom Ort des Ausstiegs der Besatzung. Der Pilot erreichte, wie sich später herausstellte, bei Rödgen unversehrt den Boden, der Techniker ging in einem Hochwald nieder.
Zum Glück kam auch der Funker Mandler ohne Schaden unten an. Noch während des Herabschwebens an seinem Fallschirm freilich hatte er bemerkt, dass er direkt auf eine Ortschaft zufiel. Um eine „Dachlandung“zu verhindern, änderte er durch Ziehen an der Fallschirmleine die Fallrichtung. Und landete schließlich zwischen zwei Kirschbäumen hindurch auf einem umzäunten Areal. Es war eine Hühnerfarm am Rande Nordecks oberhalb des Lumdatals. Bereits am Boden angekommen, wurde der Springer durch einen Windstoß gegen die Innenseite des Begrenzungszaunes gedrückt. Da lag er nun, etwas hilflos, aber unversehrt.
Zuerst galt es, sich aus den Gurten zu befreien. Dann holte der havarierte Funker seine Taschenlampe heraus und sichtete das Gelände. In einiger Entfernung erkannte er eine schlecht abgedunkelte Baracke, der er sich mit eingeschalteter Lampe näherte. Da sah er drei Personen das Areal betreten, zwei Soldaten mit Gewehren und einen Zivilist, und Mandler hörte einen von ihnen sagen: „Weg – da ist er“. „Weg“, das war auf den Fallschirmspringer gemünzt, das „da ist er“ auf den Fallschirm selbst, der sich noch immer im Wind ein wenig blähte. Dann rief der Zivilist, es war der Bürgermeister von Nordeck, in die Dunkelheit hinein: „Ist es ein Deutscher oder Amerikaner?“, woraufhin Mandler den Strahl der Taschenlampe auf sich lenkte, „Ich bin ein Gleiberger“ zurück rief und auf die drei reichlich verblüfften Männer zuging. Natürlich entspann sich sofort ein Gespräch zwischen ihnen. Und dabei erfuhr der Abgesprungene, dass man das Geschehen in der Luft beobachtet und sogar den Ruf nach seinem Kameraden Franz während des Falls gehört hatte. Jetzt erst stellte man mit nicht geringem Schrecken fest, dass der Fallschirm auf den Drähten einer Hochspannungsleitung ausgebreitet lag. Ein polnischer Zwangsarbeiter musste ihn herunterziehen. Dann trommelte der Bürgermeister alle Männer des Ortes zusammen, um den Bordmechaniker zu suchen. An der Suche beteiligte sich sogar eine im benachbarten Londorf stationierte Technikerkompanie. Es dauerte rund 1 ½ Stunden, ehe man Franz fand. Er war leicht am Arm verletzt und hatte sich an der Landestelle mitten in einem nahen Hochwald bereits eine Lagerstatt eingerichtet.
Inzwischen hatte Werner Mandler vom Telefon des Bürgermeisters aus den Flugplatz Gießen angerufen. Und siehe da: Am anderen Ende meldete sich sein Pilot, der sich gerade in der Nähe des Telefons aufgehalten hatte und nun berichtete, er sei bei Rödgen heruntergekommen und von hier aus einfach quer über das nahe Flugfeld zur Flugleitung gegangen. Das Foto zeigt das Gebäude der ehemaligen Flugleitung, aufgenommen 2016.
Der nächste Anruf Mandlers ging nach Gleiberg zum Nachbarn seiner Eltern, dem Kaufmann Karl Leib. Der möge ihnen ausrichten, dass er am nächsten Tag nach Hause komme.
Die Nacht verbrachten Funker und Techniker in dem für sie freigemachten Ehebett des Bürgermeisters. Am Morgen fuhren sie mit ihren zusammengelegten Fallschirmen per Bahn nach Gießen. Die abgesprungene Besatzung musste sich auf dem Flugplatz einer Vernehmung durch den wachhabenden Offizier unterziehen. Danach erhielt Mandler drei Tage Urlaub, benachrichtigte darüber seinen Vater, der ihn per Fahrrad in Gießen abholte.
Siegfried Träger