Die letzte Fahrt des Walter Moos

Es musste schon bald nach meiner Ankunft in Krofdorf im Jahre 1946 gewesen sein, als ich von einem Vorfall reden hörte, in dem es um einen tödlichen Motorradunfall und einen Selbstmord ging. Was da und wann wirklich geschehen sein sollte, verstand ich damals nicht und behielt eigentlich nur die beiden Stichworte – Motorradunfall und Selbstmord – im Gedächtnis. Erst Jahrzehnte später bekam ich ein kleines Foto in die Hand, das drei junge uniformierte Männer zeigt, von denen einer auf einem schweren Motorrad sitzt (siehe Bild unten). Auf der Rückseite des Fotos stand: „Die letzte Fahrt von Walter Moos“. Angeregt durch Foto und Beschriftung versuchte ich Genaueres über jene „letzte Fahrt“ herauszufinden. Und dabei war zu bemerken, dass die Erinnerung an das dahinter stehende Ereignis bei den in den 1990er-Jahren Befragten tatsächlich noch sehr gegenwärtig war. Auf mein „Was, wann, wo“ erhielt ich dann allerdings Darstellungen angeboten, die im Kern zwar übereinstimmten, aber doch in Details voneinander abwichen.

 

Von links: Willi Heyer, Walter Moos, Ernst V.

Willi Heyer, geboren am 2. 5. 1912 in Krofdorf, war der ältere von zwei Söhnen des Landwirts Wilhelm Heyer und dessen Ehefrau Luise, geb. Bender, und Enkel von Wilhelm Heyer, genannt „Backstaa-Heyer“. Willi Heyer war Landwirt und bewirtschaftete zusammen mit seinem Vater in der Hauptstraße 10 einen der damals größten bäuerlichen Betriebe Krofdorfs. Anfang der 1930-er Jahre wurde er Besitzer eines Motorrades, das ihm angeblich sein Großvater geschenkt hat. Zu Heyers Freunden zählte Walter Moos, Sohn des Gastwirts Eduard Moos, Hauptstraße 54. Walter Moos, geb. am 22. 11. 1914, war wie Heyer Mitglied des sogenannten „Motorsturms“, einer Formation innerhalb der nationalsozialistischen SA ( = Sturmabteilung).

Ende April 1935 sollen die beiden auf Heyers Motorrad eine SA-Versammlung in Wetzlar besucht haben und wollten anschließend über Waldgirmes nachhause fahren. In der Nähe von Hof Haina trafen sie ihren Kameraden Ernst V., der mit dem Fahrrad unterwegs war. Bei diesem Zusammentreffen wurden sie zu Dritt fotografiert, wer die Aufnahme machte, ist allerdings nicht mehr bekannt. Kurze Zeit später war einer der drei, Walter Moos, tot, gestorben als Beisitzer auf dem Motorrad seines Freundes. Und das soll so gekommen sein:

Nachdem die beiden Motorradfahrer sich von V. verabschiedet hatten, fuhren sie nicht direkt nach Krofdorf zurück, sondern nahmen einen Umweg über Gießen. Als sie dort die Straße in Richtung Krofdorf erreichten, soll der Motor von Heyers Maschine „blockiert“ haben. Jedenfalls ist es zu einem Sturz gekommen, an dessen Folgen Beifahrer Walter Moos noch in der folgenden Nacht in einem Gießener Krankenhaus verstarb. Ehe er beerdigt wurde, hielten Mitglieder der SA am Sarg, der im Hof der Gastwirtschaft Moos pompös aufgestellt war, „Totenwache“ (Foto unten).

Etwa ein Jahr nach dem Tod von Walter Moos besuchte Willi Heyer mit seiner Freundin (oder Verlobten) Elli J. sowie Otto V. und Hilde W. per Rad ein Kino in Gießen. Bereits wieder auf dem Heimweg – die Vier befanden sich inzwischen kurz hinter der Stadtgrenze Gießens und damit in der Nähe des etwa ein Jahr zurückliegenden Motorradunfalls – beugte sich Heyer über die Lenkstange, löste sich aus der Radlergruppe und fuhr, sein Tempo steigernd, geradewegs auf einen Straßenbaum zu. Nach dem Zusammenprall mit dem Baum blieb er blutüberströmt auf der Straße liegen. Seine Begleiter liefen in ein naheliegendes Wohnhaus und forderten von dort aus telefonisch einen Krankenwagen an. Einige Tage später dann ist Heyer an seinen schweren Kopfverletzungen im Krankenhaus gestorben.

Versucht man herauszufinden, was Heyer zu diesem selbstmörderischen Handeln veranlasst haben mag, bekommt man von Menschen, die sich daran noch erinnern, zumeist die Antwort, er habe das Schicksal seines Kameraden nicht verwunden und deshalb den Tod an der Stelle des Motorradunfalls gesucht. Es gibt jedoch noch eine Version, die Heyers Verhalten in einem etwas anderem Licht erscheinen lassen könnte. Sie stammt von Personen, von denen eine der Verlobten Heyers Elli J. freundschaftlich verbunden war, eine andere seinerzeit zum Freundeskreis Heyers gehörte. Dabei war übereinstimmend zu hören, dass Willi Heyer nach dem Motorradunfall durch den Krofdorfer SA-Mann Albert V. schwer beschuldigt worden  sei, und zwar in der Weise, dass ihm V. – „Scharführer“ der SA-Reiter und wesentlich älter als Heyer – immer wieder seine angebliche Schuld am Tode von Moos vorgehalten habe. Darüber klagte Heyer unter Tränen eines Tages sogar am Wirtshaustisch beim „Moos“. Er scheute sich also nicht, auch weiterhin die Gastwirtschaft zu besuchen, die dem Vater seines toten Freundes gehörte, er also hier keine Vorhaltungen hinsichtlich des Unfalles und seiner Folgen zu befürchten brauchte, ja sogar offen darüber sprechen konnte.

Was also trieb den jungen Menschen am Ende wirklich dazu, sich unter den Augen guter Freunde ins Verderben zu stürzen? War es wirklich nur eine „Spontanreaktion“, weil Ort und Zeit ihn plötzlich an den folgenschweren Unfall vom Jahr vorher erinnerten? Oder war es der Schlusspunkt einer seelischen Entwicklung, in die sich Stimmen von außen einmischten, gegen die der Angeschuldigte keinen Widerstand mehr aufbrachte? Ganz bestimmt aber versuchte Heyer sich mit seiner Tat von einer schweren Not zu befreien. Einen anderen Ausweg sah er vielleicht nicht, bot ihm wohl auch niemand an.

Siegfried Träger