Vom Flugzeugbauer zum Blumenfabrikant

Wie ein ganz neues Gewerbe in unser Dorf kam – und wieder verschwand

In den 1950-er Jahren konnte man in Krofdorf gar nicht selten folgendes beobachten: Frauen, zumeist jüngeren und mittleren Alters, transportierten auf dem Gepäckträger ihres Fahrrades oder mittels Leiterwägelchen fast mannsgroße helle Kartons vom Dorf hinauf in Richtung Gleiberg. Wer ihnen gefolgt wäre, hätte gesehen, wie sie von der Burgstraße in den Hainweg einbogen und etwa 200 Meter weiter mit ihrer Fracht ein langgestrecktes barackenähnliches Holzhaus betraten. Das damals letzte Gebäude am Hainweg, Eigentum der in Frankfurt “ausgebombten” Familie Nöll, hatte während des 2. Weltkriegs an anderer Stelle als Unterkunft für Fremd- und Zwangsarbeiter der Firma Döco gedient. Jetzt befand sich in einem Teil des Hauses die Blumenmacherei des Hans Nitsche. Hier wurde aus den Kartons heraus abgeliefert, was in Heimarbeit verfertigt worden war: luftige Gebilde aus Krepppapier und Draht. Es waren die Rohlinge, die erst noch Festigkeit und Farbe erhalten mussten, damit sie als Kunstblumen für Kränze und Schießbuden dienen konnten.

Nitsches Blumenfabrikation, die als Firma A. Oehme im Handelsregister stand, war eines der rund 140 zumeist kleinerer Unternehmen, die es in der Nachkriegszeit in Krofdorf-Gleiberg gab und rund um den Gleiberg 25 Jahre lang das einzige seiner Art war (in Krofdorf wahrscheinlich das erste überhaupt).

Wie aber kam es, dass sich in unserem Dorf eine Produktionsstätte für Kunstblumen etablierte? Die Bedingung dazu schufen – kurz gesagt – der Krieg sowie die ihm folgende Teilung Deutschlands in Ost und West. Beginnen wir mit dem Krieg. Hans Nitsche aus Sebnitz in Sachsen (Foto) und von Beruf Flugzeugbauer kam als Kriegsgefangener der Amerikaner nach England. Dort lernte er den ebenfalls kriegsgefangenen Paul R. aus Krofdorf kennen. Nitsche war damals schon verlobt mit Lieselotte Oehme, der Tochter von Arthur Oehme und seiner Frau Gertrud, die in dem bereits erwähnten Sebnitz eine kleine Blumenfabrik besaßen. Der Ort, am Nordrand des Erzgebirges gelegen, war weithin bekannt als „Stadt der Kunstblumen“.

Aber die Oehmes sahen wohl unter der russischen Besatzung Sachsens keine rechte Zukunft mehr für ihr Unternehmen und wollten ihre Heimatstadt verlassen, „abhauen“, wie man damals den Wechsel von Ost nach West nannte. Aber wohin? Da kam ihnen die Bekanntschaft des Verlobten ihrer Tochter mit eben jenem Paul R. aus Krofdorf in den Sinn. Könnte der ihnen nicht den Weg in den Westen ebnen? Hans Nitsche, der inzwischen als freier Mann in England geblieben war und sogar seine  Verlobte dorthin geholt hatte, suchte den Kontakt zu dem gleichfalls längst aus Kriegsgefangenschaft entlassenen Krofdorfer, und der wiederum fragte Günter Nöll, den Besitzer des Holzgebäudes am Hainweg, nach der Möglichkeit, hier eine Blumenmacherei einzurichten. Nöll, der damals schon in seiner Behausung die defekten Radios der Dorfbewohner reparierte, sagte zu, worauf hin Arthur Oehme bereits in den Jahren 1947/48 entsprechendes Material und Geräte aus Sebnitz nach Krofdorf expedierte, selbst jedoch zurück in seiner Heimatstadt blieb und Hans Nitsche vorschlug, eine Blumenproduktion in Krofdorf aufzuziehen. Der wäre zwar lieber in England geblieben, auch seine Verlobte Lieselotte wollte „eigentlich vom Blumenmachen gar nichts wissen“, wie mir Frau Nitsche (Bild rechts) Jahrzehnte später sagte. Aber es kam anders: Die beiden heirateten 1950 in Sebnitz und zogen noch im selben Jahr auf getrennten Wegen wieder in den Westen, aber nicht zurück nach England, sondern nach Krofdorf. Hier bezogen sie ein Hinterzimmer im Haus am Hainweg und begannen in den beiden vorderen Räumen mit dem bereits vorhandenen Material und zwei noch zusätzlich aus Sebnitz zugesandten Stanzen und Maschinen – eine Presse und eine Drücke – mit der Blumenproduktion.

Die zunächst aus Krepppapier gestanzten und per Druck geformten Blüten-und Blumenblätter gingen zusammen mit dem Draht für die Stiele an Heimarbeiterinnen, die daraus zunächst jene bereits erwähnten Rohlinge anfertigten. Deren eigentliche Veredlung zu „Blumen“ geschah dann wieder unterm Dach des Hainweg-Gebäudes, wo sie zur Festigung zunächst in heißes Paraffin getaucht und anschließend zum Trocknen mit ihrem Stiel in einen Sandkasten gesteckt wurden. 50 Pfennig Stundenlohn – etwa soviel wie die Zigarrenmacherinnen am Ort – erhielten zu Anfang die 4 bis 5 fest angestellten Arbeiterinnen für diese Tätigkeit, während die Heimarbeit im Stücklohn abgegolten wurde.

Waren die Papierblumen gewachst und getrocknet, kam als letztes eine Art Bestäubung dran. Bestäubt wurde aber nicht mit Pollen wie in der Natur, statt dessen mit einer Mischung aus Kartoffelmehl, Talkum und Farbe. Erst danach waren die Blumen fertig für die Kunden, zumeist Gartenbetriebe und Großhändler, die sie an Kaufhäuser und Schießbuden weiterverkauften.

„Angefangen haben wir mit Kranzblumen“, erinnerte sich Frau Nitsche mehr als fünfzig Jahre später an die dürftigen Anfänge am Hainweg. Erst etwas später habe man auch Schießbuden-Blumen angefertigt. Das Sortiment umfasste Rosen, Nelken und Dahlien. Chrysanthemen hingegen mit ihrer komplizierten Blütenpracht konnten erst in das Angebot aufgenommen werden, nachdem das Unternehmen eine sogenannte „Riefmaschine“ angeschafft hatte. Da befand es sich aber schon nicht mehr am Hainweg. Zehn Jahre nach der Gründung nämlich verließen die Nitsches das Baracken-Domizil und bezogen eine neue Produktionsstätte: die entsprechend umgebaute Scheune des Anwesens Nr. 22 in der heutigen Wetzlarer Straße.

1975 dann war Schluss mit dem Blumenmachen aus Krepppapier und Paraffin. Um diese Zeit begann die Ära der Plastikblumen, „und deren Fertigung wollten wir nicht übernehmen“, erklärt Frau Nitsche die Entscheidung, die Firma A. Oehme 25 Jahre nach ihrer Ansiedlung in Krofdorf wieder aufzulösen.

Siegfried Träger