1945: 9000 Reichsmark aus dem Gemeindetresor spurlos verschwunden

Am 8. Mai 1945 war der Spuk zu Ende, Deutschlands Kriegsherren kapitulierten vor der Übermacht der Feinde. Es herrschte wieder Frieden in dem Land, von dem aus Hitlers Heere sechs Jahre vorher ihre Nachbarvölker überfallen hatten. In Krofdorf freilich war schon früher Schluss mit dem Krieg; bereits am 28. März hatten US-Truppen den Ort besetzt, einschließlich der Bürgermeisterei, die

damals noch als markantes Bauwerk an der Burgstraße stand  (Foto). Das Gebäude beherbergte Dienstwohnungen im Obergeschoss und neben den darunter liegenden Verwaltungsräumen auch die sogenannte Zweckverbandskasse, also quasi das Schatzamt der Gemeinde und weiterer diesem „Zweckverband“ angehörender Ortschaften. Der Vorrat an Bargeld lagerte in einem Panzerschrank der Marke Krogmann* und betrug laut Tagesabschluss vor dem Einmarsch der fremden Truppen genau 11046,44 Reichsmark.

Am 11. April, gerade einmal zwei Wochen nach Einnahme des Ortes, übernahm der Sozialdemokrat Adolf Mandler als neuer mit Zustimmung der Militärstelle für zivile Angelegenheiten in Wetzlar eingesetzte Bürgermeister die Amtsgeschäfte. Sein Vorgänger aus der NS-Zeit, der Malermeister Hermann Schleenbecker, war am Tag zuvor abgesetzt worden. Dieses Schicksal hatte vorher schon den Kassenleiter Christian Lenz ereilt, den man sogar verhaftete. Dessen Zuständigkeit für die Geldgeschäfte der Gemeinde war seinem Stellvertreter Richard Zecher übertragen worden.

Adolf Mandler (Foto) fungierte jetzt nicht nur als neuer Bürgermeister; mit dem Amt übernahm er auch den Vor-steherposten für die Zweck-verbandskasse und damit die Herrschaft über deren Bar-vermögen. Und das müsste eigentlich immer noch in jenem bereits erwähnten Panzerschrank lagern. Allerdings, es gab da einen Haken: der Schlüssel zu dem Schrank ließ sich bei Dienstantritt des neuen Bürgermeisters an jenem Apriltag 1945 trotz intensiver Suche nicht auffinden. Also wurde ein Handwerker bestellt, der in Anwesenheit von Mandler und der Angestellten Richard Zecher und Otto Leib das Schloss herausschweißen musste. Indes: die Ausbeute der mühevollen Arbeit fiel geringer als erwartet aus. Viel geringer sogar. Statt jener laut letztem Tagesabschluss 11046 Mark und 44 Pfennige fanden die drei Verwaltungsmänner lediglich einen Barbestand von 1646 Mark und 35 Pfennige sowie einen Geldbeleg über 400 Mark und 9 Pfennige, zusammen von Wert also lediglich 2046 Mark und 44 Pfennige. „Es wurde somit“, wie es ein später angefertigtes Protokoll lapidar vermerkte, „ein Fehlbetrag von RM 9000 festgestellt“.

Auf welche Weise und wohin aber mag eine solche stolze Summe sich verflüchtigt haben? Spuren einer gewaltsamen Öffnung etwa hatte der Tresor bis zum Schweiß-Aufbruch nicht gezeigt. Um eine Erklärung für den geheimnisvollen Geldschwund zu finden, mussten sich dazu am 16. Mai, also erst Wochen nach dem Vorfall, mehrere Personen vernehmen lassen.

Als erstes war die Ehefrau des abgesetzten Kassenleiters, Elise Lenz, dran. Ihr Ehemann, so Frau Lenz, habe ihr am 30. März, dem Tag seiner Verhaftung, die in Frage kommenden Schlüssel, „zwei oder drei mit einem Bindfaden zusammengebunden“, mit der Bemerkung übergeben, sie müsse diese „wegen des im Schrank befindlichen vielen Geldes gut verwahren“. Zwei oder drei Tage später, fuhr Frau Lenz fort, seien ihr die Schlüssel von dem (damals noch amtierenden) Ortsdiener Leicht mit der Begründung abverlangt worden, das geschehe im Auftrag eines Offiziers der US-Besatzung. Sie habe die Schlüssel dem Ortsdiener aber nicht gegeben, „worauf“, wie sich Frau Lenz erinnerte, „der Offizier selbst zu mir kam mit dem Ansuchen, ihm die Schlüssel auszuhändigen, da der Kassenschrank geprüft werden müsse“. „Ich ging“, so Frau Lenz weiter, „mit dem Offizier zu dem Bürgermeister Schleenbecker und stellte den Antrag, dass bei der Öffnung des Kassenschrankes ein Vertreter der Gemeinde-Verwaltung mit zugegen sein möge.“. Diesem Wunsch habe der Offizier zunächst auch zugestimmt, dann aber erklärt, die Schranköffnung müsse „in Gegenwart des Herrn Oberst stattfinden“. Das aber sei erst am nächsten Tag möglich. Daraufhin übergab Frau Lenz die Schlüssel dem Bürgermeister und, wie sie nachdrücklich versicherte, „sonst niemand anderem“. Dies sei mit der Bitte geschehen, dafür einzutreten, „dass die Öffnung des Schrankes nur in seiner Gegenwart erfolge.“. Sie selbst jedenfalls habe den Kassenschrank nicht geöffnet, „zumal damals das Kassenlokal ja auch dauernd von amerikanischen Soldaten besetzt und ich mit der Räumung meiner Wohnung vollauf beschäftigt war.“.
Ja, bestätigte in der nun folgenden Vernehmung der jetzt Ex-Bürgermeister Hermann Schleenbecker die Aussage der Kassenleiter-Gattin, er „habe die Schlüssel des Kassenschrankes von Frau Lenz in Empfang genommen und sie dann einige Minuten später an den Offizier der amerikanischen Besatzung auf dessen Anforderung ausgehändigt.“. Geschehen sei das in seinem Geschäftszimmer in Gegenwart von Fräulein Bindewald und Herrn Henkel, beide damals Gemeindeangestellte. Der Offizier habe ihm dann versprochen, versicherte Schleenbecker weiter, ihn am nächsten Tag zur Öffnung des Schrankes zu bestellen. Indes: als der zu jenem Zeitpunkt Noch-Bürgermeister am Tag darauf zum Dienst erschien, waren die Amerikaner abgerückt und er sei, gab er zu Protokoll, „zu einer Öffnung des Kassenschrankes nicht bestellt worden.“.

Ein weiteres Nachspiel als die Vernehmung der erwähnten Zeugen hatte der Diebstahl aus dem Gemeinde-Tresor – und darum handelte es sich ja allem Anschein nach – wahrscheinlich nicht, jedenfalls kein dokumentiertes. Denken mochten sich alle Eingeweihten, wem der große Verlust zuzuschreiben war. Ob sie es freilich wagten, ihre Gedanken auch laut auszusprechen, darf angesichts der Machtverhältnisse damals bezweifelt werden. Übrigens: das verschwundene Geld soll hübsch in mehreren Päckchen gebündelt im Tresor verwahrt gewesen sein; wer immer es an sich genommen hat, es konnte also schnell geschehen. Auf jeden Fall musste der Dieb einen Schlüssel besessen – und ihn behalten haben, denn der blieb zusammen mit den entfleuchten 9000 Mark für immer verschwunden.

Erhalten blieb der Gemeinde wenigstens der lädierte Krogmann-Tresor. Die Herstellerfirma* installierte ein neues Schloss, so dass ihn der Zweckverband noch für längere Zeit zur sicheren Aufbewahrung seiner Werte nutzen konnte.

Siegfried Träger

*Firma Krogmann, Kassenschrankfabrik und Tresorbauanstalt, Gießen, Frankfurter Straße 143, Inh. Hans Burg (Adressbuch Gießen, 1927)