Im Jahre 1928 verschwand ein junger Mensch von einem Tag auf den anderen scheinbar spurlos aus Krofdorf. Es handelte sich um den damals 21 Jahre alten Paul Wagner aus einem Anwesen an der Schieferstraße mit der heutigen Nummer 11.Es dauerte aber nicht allzu lange, da sprach sich im Ort herum, dass Wagner, ein begabter Musiker, der bei einem Musiklehrer in Gießen Trompete und Flügelhorn spielen gelernt hatte, in die französische Fremdenlegion eingetreten sei. Auslöser für diesen Schritt soll ein Vorfall gewesen sein, den mir ein Altersgenosse Wagners kurz vor seinem Tod schilderte.
Danach hatte Wilhelm Wagner, ein gelernter Uhrmacher aus der Hauptstraße 55 und nicht näher verwandt mit seinem Namensvetter Paul, mit Freunden eine feuchtfröhliche Party veranstaltet, angeblich weil er beruflich in die Schweiz übersiedeln wollte. Das abendliche Abschiedsfest fand jedoch nicht in einem geschlossenen Raum statt, sondern unter freiem Himmel auf einem großen Strohhaufen. Der befand sich rechter Hand am Dorfausgang in Richtung Waldhaus auf einem Grundstück, das dem Gastwirt Moos gehört haben soll. Ob angelockt durch den Lärm der Feiernden oder eher zufällig, jedenfalls näherte sich dem Strohhaufen im Schutz der Dunkelheit der Trompeter Paul Wagner. Statt seiner Trompete aber hatte der jugendliche Raucher Streichhölzer dabei. Damit, so meinte er wohl, könne man denen auf dem Haufen einen lustigen Streich spielen. Und ohne langes Zögern folgte der Idee die Tat. Unbemerkt von den fröhlichen Zechern flammte am Fuße des Strohhaufens ein Zündholz auf, wurde an das Stroh gehalten und entfachte ein Feuer, das allmählich den gesamten Haufen zu erfassen drohte.
Jetzt endlich nahmen Wilhelm Wagner und seine Freunde wahr, in welcher Gefahr sie schwebten und brachten sich in Sicherheit, ehe das Stroh völlig niedergebrannt war. Wo und wer aber war der Brandstifter? Natürlich hatte der sich längst in die Dunkelheit der Nacht hinein aus dem Staub gemacht. Allerdings, wie sich bald herausstellte, nicht ganz spurlos. Als der abgekühlte Brandherd nämlich Tags darauf näher inspiziert wurde, stieß man auf einen Gegenstand, der kaum zufällig hierher geraten sein konnte: Ein zwar brandgeschwärztes, aber sonst unversehrt gebliebenes Zigarettenetui aus Metall. Und in dessen Deckel eingraviert las man unter einer Widmung den Namen Hilde Rothe. Wer aber war Hilde Rothe? Und wem mochte die Widmung gelten? Das zu ermitteln, erforderte keine übermäßig große kriminalistische Begabung. Hilde Rothe, das Foto zeigt sie 1922 als Konfirmandin, die kannte jeder als Tochter des Dorfpolizisten Gustav Rothe, und ihr damaliger Galan, das war ebenfalls kein Geheimnis, hieß Paul Wagner. Ihm hatte sie offenbar das Etui geschenkt und, damit er sie ja nicht vergesse, es mit ihrem Namen versehen.
Doch als man Wagner auf Grund dieses „Beweisstückes“ dingfest machen wollte, war er nicht auffindbar, hatte offenbar Eltern und Geschwister verlassen – und seine Freundin Hilde obendrein. Die beklagte sich später in einem Brief, geschrieben im Februar 1929 aus dem Rheinland (wo sie damals wohl inzwischen lebte) an einen gemeinsamen Freund in Krofdorf über Paul Wagner mit den Worten: „Wenn er etwas in sich gehabt hätte dann hätte er mir wenigstens noch einmal geschrieben, grade so gut wie er seinen Eltern aus Frankreich schrieb hätte er auch mir ein paar Zeilen schreiben müssen. Das wäre seine Pflicht gewesen.“. Dann bittet sie den Adressaten, ihr „den Brief, den ich Dir für P. mitgeschickt, doch wieder zurück zuschicken“. Auch sei es ihr „schrecklich“, dass die Familie ihres entschwundenen Freundes noch Briefe von ihr habe.
Bevor Wagner, wie es aus dem Brief Hilde Rothes hervorgeht, nach Frankreich abgetaucht war, soll er von seinem Heimatort aus zunächst zu einem entfernt wohnenden Verwandten geflohen sein. In Frankreich trat er in die Fremdenlegion ein, wo er dank seiner musikalischen Fähigkeiten ein ganz erträgliches Leben geführt haben soll. Erst nach dem Ende des Hitler-Feldzugs gegen Frankreich im Jahre 1940, also mehr als zehn Jahre nach seiner Flucht, kehrte Wagner nach Krofdorf zurück. Er heiratete Leni Volkmann aus der Seemühle und bekam dank seiner in der Legion erworbenen Französischkenntnisse in Wetzlar eine Anstellung als Dolmetscher für kriegsgefangene Franzosen. Bald aber musste auch er wie viele seiner Generation in den 2. Weltkrieg ziehen, wo er, der ehemalige Fremdenlegionär, bei Smolensk in Russland umkam. Was indes aus seiner verlassenen Freundin Hilde wurde, liegt im Dunkeln.
Siegfried Träger